Weissrussland per Rad

Quer durch die letzte europäische Diktatur
„Bei uns herrscht Ordnung im Land“ diesen Leitsatz von Staatspräsident Alexander Lukaschenko spürt man schon bei der Einreise, ist doch das Verbot, Geldscheine in Pässe zu legen, deutlich ausgeschildert. Es scheint auch ohne Trinkgeld relativ zügig zu klappen beim Übergang von Bruzgi. Der Ordnung halber müssen wir nur noch ausführlich begründen, warum wir als Fahrradgruppe zwei Begleitfahrzeuge brauchen und nicht eines. Dann sind wir drin, in der letzten Diktatur Europas. Flankiert von Getreidewüsten radeln wir auf auffallend guten Strassen ohne Autoverkehr gemütlich dahin. Immer wieder tauchen mit dem Charme der naiven Malerei Bushäuschen mit Motiven aus der einheimischen Tier- und Pflanzenwelt auf. Im ersten Lebensmittelgeschäft sieht es aus wie in einem Spielzeugladen. Eine leuchtend rote Wage, dazu passende rote Regalrahmungen, Decke und Wände sind elegant milchverglast. All das hat etwas Liebevolles an sich und wir sind uneins darüber, ob es sich dabei um Dekor oder um Aufweichung des lukaschenkoschen Ordnungsbegriffes handelt.

Im 250.000 Einwohner zählenden Grodno sind die Laternenkandelaber zur Feier des Unabhängigkeitstages am 3. Juli mit rot grünen Farben geschmückt. Adrett gekleidete junge Paare schieben im ruhigen Gleichschritt Kinderwagen herum. Die Fassaden sind gepflegt und das nicht nur am zentralen Platz Sovietsky. Für Nichtliebhaber von Hundekot stellt sich ein kurzer Hauch von Sehnsucht ein, die aber in den nächsten Tagen zu Recht gerückt wird. Stadtführer Sergeij führt uns von der barocken Jesuitenkirche über laut trällernde Ampeln zum Drama-Theater. Die Mischung aus Neoklassizismus und Jugendstil ist der künstlerische Stolz der Stadt. „Wir haben zur Zeit eine Interpretation von „Des Kaisers neue Kleider“ im Programm, die unseren Präsidenten aufs Korn nimmt“ verkündet er. „In der Geschichte starren die Leute den Kaiser mitsamt seinen nicht vorhandenen Kleidern an, im Stück wenden sie sich einfach von ihm ab“, was wohl als Systemkritik verstanden werden soll. „Wieweit darf man hier im Land gehen, darf man Lukaschenko offen kritisieren?“. „Das“, meint Sergej, tut man am besten in der Küche oder im Wald“. Am Nachmittag sitzen wir wieder auf dem Sattel. Es geht durch den Biarezinski-Nationaplark. Hier gingen im Dezember 1812 die Reste von Napoleons „Grande Armee“ über die Beresina, was infolge von Kosakenangriffen zu einer mörderischen Massenpanik geriet. Tolstoj hat dies in „Krieg und Frieden“ so beeindruckend festgehalten. Die Strecke ist sehr schön. Aus Wiesen herausschießendes Buschwerk verdichtet sich zum Horizont hin zu endlosem Grün. Wir radeln durch hölzerne Dörfer, vorbei an bunten Fassaden, bunten Zäunen, Blumen, Bänken und erstaunt da sitzenden Menschen. Die überhasteten Umbrüche Anfang der 90 er Jahre, als die Bauern in die Segnungen der Marktwirtschaft verabschiedet und in der Kolchose auf einmal keine Löhne mehr gezahlt wurden, stecken noch heute vielen in den Knochen.
Heute gibt es die Kolchose immer noch und ein jeder hat noch sein eigenes kleines Stück Land. Wir halten am schönsten, an einem See gelegenen Haus im Dorf. Kaum sind die Auslöser gedrückt, platzt aus dem Vorgartenidyll ein wütendes Rumpelstilzchen heraus. „No foto, no foto“. Es greift nach einer Kamera. Wir strampeln fluchtartig über den Sandweg. Es kommt zu Stürzen, einer flucht, der andere scherzt: „So kann ich wenigstens sagen, ich bin bei der Beresina gefallen“. „Das war eine Funktionärsdatscha, ein kleiner Vorgeschmack was passiert, wenn man in Minsk den Präsidentenpalast fotografiert „ meint unser Reiseleiter.

Durch die 1,8 Mio Metropole Minsk führt ein Radweg Seen und Parks entlang. Von der historischen Altsstadt hat der Krieg wenig übrig gelassen. Heute dominieren breite Boulevards im Stil stalinistischer Zuckerbäckerei, die aber ihren eigenen illuminierten Charme haben. Es fällt eine gewisse Janusköpfigkeit auf. Neben monumentalen Fenstergebirgen gibt es künstlerisch barlacheske Verspieltheiten wie etwa die Tänzerinnen vor der Bolschoi-Oper oder das ergreifende Denkmal der trauernden Mütter der Afghanistan-Gefallenen auf der „Insel der Tränen“. Wir können uns mit per Rad auf den Bürgersteigen und in den Parks vollkommen frei bewegen weil wir Rücksicht nehmen. In dem Fontänenspringbrunnen vor der Oper planschen Kinder mitsamt ihren Fahrrädern herum. Polizei ist weit und breit keine zu sehen. Die „Galerie Y“ an der „Vulitsa Niezalleznasci“ ist Buchladen, Bildergalerie und Treffpunkt der Künstlerszene der Stadt. Hier werden nicht nur T-Shirts mit dem Aufdruck „Belarus-error, not found“ sondern auch avantgardistische Malerei und kritische Bücher angeboten. Warum lässt das Regime diesen Freiraum zu? Ist es so, dass, wie die Chefin Nadja Zelenkova sagt, man eine Art Pakt eingegangen ist? „Wir beraten, wenn sich unser Land im Ausland kulturell präsentiert, bei Ausstellungen oder der Betreuung unserer Kulturattaches. Dafür haben wir gewisse Freiheiten“. Oder leistet sich das System einfach nur einen Checkpoint für Undichtigkeiten? Im Cafe nebenan wird jedenfalls, wenn auch nur leise, erstaunlich offen geredet. Man hört und fühlt hier die Sehnsucht nach Veränderung.

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Geführte Fahrradreisen durch Weißrussland bietet der polnische Veranstalter „Bird-Service“
www.bird.pl an. “Semiramis Tour“ www.semiramistour.com hat sich auf Bildungs- und Studienreisen spezialisiert. „Go east“ www.go-east.de bietet vielerlei Reisen nach Weißrussland einschließlich Flüge nach Minsk an.

Als Reiseführer ist „Weißrussland entdecken“ aus dem Trescher Verlag zu empfehlen.

Text und Fotos: Michael Lösch


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