Calvinia - Jüdisches Leben am Ende der Welt

Calvinia - Jüdisches Leben am Ende der Welt

von Margit Roth

Um nach Calvinia zu gelangen, braucht man sehr viel Geduld. Eine endlos scheinende, gerade Straße, hunderte Kilometer nur Büsche am Straßenrand und ab und zu ein paar Hügel. Zwischen den Büschen fressen Schafe die wenigen grünen Blätter, Menschen sieht man in dieser Gegend nur selten.

Calvinia hat ein paar Tankstellen, einen Supermarkt und was man sonst noch im Hinterland dringend braucht. Den Ort würde man schnell vergessen, gäbe es nicht die historischen Häuser, die von einer großen Blütezeit zeugen.

Calvinia, das heute mit hoher Arbeitslosigkeit und Wassermangel zu kämpfen hat, war Mitte des 19. Jahrhunderts eine florierende Gemeinde in Südafrikas Kleiner Karoo. Bis Kapstadt sind es über 380 Kilometer, die Sommer sind unbarmherzig heiß und die Winter nachts bitterkalt, dennoch haben sich hier, am Fuße der Hantam-Berge, Auswanderer aus den Niederlanden angesiedelt, um Schafe zu züchten. Die Calvinisten wollten ihren Glauben in Abgeschiedenheit leben, den Ort, der bis dahin „Hantam“ hieß, was in der Khoi-Khoi-Sprache soviel wie „Berg, wo die roten essbaren Blumen blühen“ bedeutet, nannten sie kurzerhand in Calvinia um.

In Europa nahm derweil die Industrialisierung Fahrt auf. Wolle musste nicht mehr händisch gesponnen werden, man konnte sie maschinell verarbeiten. Die Nachfrage war groß, der Transport der Wolle zum nächsten Hafen nach Kapstadt für die Farmer jedoch sehr langwierig und beschwerlich.

Louis Heilbron erkannte die Chance und ließ sich als erster jüdischer Händler 1848 in Calvinia nieder. Nach und nach wuchs die jüdische Gemeinde. Während es anfangs Emigranten aus Deutschland und England waren, zogen in den 1880 Jahren immer mehr Familien aus Litauen ins südafrikanische Hinterland.

Die Situation in Litauen und der Ukraine hatte sich in den 1880iger für Juden dramatisch verschlechtert. Russische Pogrome zwangen viele zur Flucht nach West- und Mitteleuropa. In Europa war die wirtschaftliche Lage indes sehr angespannt - für Deutsche, Engländer und Italiener genauso wie für aus dem Balkan geflüchtete Juden. Alleine in den 1880iger Jahren wanderten 1,5 Millionen Deutsche in die USA aus. Die Tickets in die USA waren begehrt und teuer, Tickets nach Südafrika hingegen sehr viel schneller und preiswerter zu haben.

Leon Helfet war einer der aus dem Schtetl Chernuck geflüchteten Juden, die zuerst in England ihr Glück versuchten, nach ein paar Jahren aber weiter nach Südafrika zogen. 12 Pfund bezahlte er für die 21-tägige Schiffspassage, 26 Pfund blieben ihm für den Neuanfang.

So wie Helfet traten Ende des 19. Jahrhundert über 40.000 Juden den Weg nach Südafrika an, viele von ihnen gingen in Kapstadt von Bord und wurden dort, wie alle Neuankömmlinge, von jüdischen Mentoren empfangen, in einem Übergangsheim untergebracht und mit vielen guten Ratschlägen auf ihr neues Leben vorbereitet.

In Kapstadt hatte sich innerhalb von 100 Jahren eine lebendige jüdische Gemeinde entwickelt. Möglich wurde dies durch den niederländische General-Kommissar Jacob Abraham de Mist, der es 1804 per Proklamation Juden erlaubt, sich in der niederländischen Kolonie Südafrika aufzuhalten und die jüdische Religion zu praktizieren.

Leon Helfet hatte Glück und lernte den Tierhändler Oom Dawie Cohen kennen.
Cohen gab ihm den Rat, einen Kredit aufzunehmen und in Calvinia ein Geschäft zu eröffnen. Leon kaufte zwei Pferde, einen Wagen mit Waren und machte sich auf den Weg ins Hinterland.

Die Geschäfte liefen in dieser Zeit für Leon Helfet gut, was auch am Zweiten Anglo-Burischen Krieg lag, der 1899 ausgebrochen war aus. Calvinia besaß für die beiden Kriegsparteien einen hohen strategischen Wert. Die Engländer stationierten große Truppenverbände in und um Calvinia, die versorgt werden mussten.
Die Armee brauchte Uniformen, Decken, Essen für die Soldaten und Futter für die Tiere. Die jüdische Gemeinde wuchs weiter und zählte zur Jahrhundertwende 104 Mitglieder.

Sieben Jahre brauchte Helfet, um sein Geschäft aufzubauen und genügend Geld anzusparen, um sich ein Haus zu bauen und seine Verlobte, Sara, aus England nachzuholen. Er baute ihr die „Villa Carmel“ ein prachtvolles Haus im europäischen Stil mit jüdischen und ukrainischen Elementen, ließ Möbel und Geschirr aus England kommen und heiratete seine Braut in Kapstadt.

Empfangen wurde das Brautpaar nach einer fünftägigen Reise nicht nur von den jüdischen Gemeindemitgliedern, sondern auch von calvinistischen Familien, mit denen sich Helfet angefreundet hatte.

Die jüdische Gemeinde war klein, hatte aber eine wichtige Bedeutung für die Entwicklung Calvinias. Man schätzte und respektierte sich. Durch Zufall fiel beispielsweise der Termin für das Nachtmaal auf Rosh Hashana. Zum Nachtmaal, frei übersetzt Abendgottesdienst, kamen Farmer aus der weiteren Umgebung einmal im Jahr nach Calvina. Sie beteten in der Kirche, es wurden aber auch Schulden bei den Händlern beglichen und eingekauft. Für die jüdischen Geschäftsleute in der Stadt wäre es eine finanzielle Katastrophe gewesen, an diesem Tag nicht öffnen zu können. Rabbi Rabinowitz sprach mit dem Pfarrer, und dieser erklärte sich bereit, den Termin für das Nachtmaal zu verlegen.

Rabbi Rabinowitz war es auch, der zu hohen Feiertagen die 380 Kilometer von Kapstadt nach Calvinia reiste, um Gottesdienste zu halten. Einen eigenen Rabbi hatte Calvinia nicht, seit 1899 jedoch eine kleine Synagoge in der Waterstraat, die 1920 von einer größeren Synagoge in der Church-Street abgelöst wurde.

In den 1940igern erlangten die Grauhemden, eine faschistische Organisation, immer mehr Einfluss im Hinterland, wodurch das Leben für jüdische Familien zunehmend gefährlicher wurde. Die Helfets entschieden sich 1948 ihren Autohandel zu verkaufen und nach Kapstadt zu ziehen. In der Synagoge wurde 1968 der letzte Gottesdienst gefeiert.

Auch heute noch, über 40 Jahre nachdem die letzte jüdische Familie Calvinia verlassen hat, ist die Erinnerung an die jüdische Vergangenheit lebendig. Im Friedhof gibt es eine kleine jüdische Abteilung, in der früheren Synagoge ist das Städtische Museum untergebracht. Die Leiterin, Memci van Wyk, hat über die Jahre mit viel Leidenschaft Erinnerungsstücke des jüdischen Lebens in Calvinia zusammengetragen.

Die Villa Carmel dient heute als Bed & Breakfast, die erste Synagoge in der Waterstraat beherbergt das Restaurant Blou Nartjie. Die goldene Ära Calvinias, so Memci van Wyk, ging jedoch zu Ende, als die letzte jüdische Familie die Stadt verließ.

Text: Margit Roth
Fotos: Margit Roth

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