Frühlingswind

Arthur Pauli
Frühlingswind

8 Uhr. Ein Blick aus dem Hüttenfenster erhascht dürftige Fasern von Wolken, die über die blauschattige Bergmulde nordwärts ziehen. Irgendwo hinter den hohen, längst vom Schnee befreiten Fichten dort oben muß schon die Sonne sein.

„Frühling", singen die Vögel, doch noch knistert der Harsch unter den Stiefeln, als ich mit rauchendem Atem in den Schritten von gestern aufwärts steige.

Die Luft ist mild, zu mild. Die Fichten im Schatten haben ein dunkelolives Kleid angelegt, und die Art wie ihre Wipfel singen und rauschen scheint einen baldigen Wetterumschwung anzudrohen.

Der Winter geht, der Sommer kommt, große gelbtrockene Grasflecken unter den Bäumen warten auf die Sonne.
Meine Augen schweifen hinunter ins Tal und sehen fahle Bräune, nicht das blaue Meer der Waldanemonen, nicht den Punkteteppich von unzähligen Wiesenkrokussen. Sie sehen nur die blendenden Blitze der scharfen Harschkristalle hier oben: Schnee zwischen Eis und Firn.

Frühling — Ich strebe bergan, und die kräftige Sonne brennt über dem Nacken. . . . Und ich habe nicht einmal etwas dagegen, denn ich kann es kaum erwarten bis sich der Harsch zu leichtem, spritzendem Firn verwandelt hat.
Oberall tropft, gluckert und gurgelt es: Geräusche sterbenden Schnees. — Ein Dohlenschrei, und wirre Wolkenfetzen breiten ihre Fangarme über das finsterste Blau, in das der allmählich buttergelbe Schnee jemals blickte.
Frühlingswind. — Warm und wild zaust er an meinen Haaren und scheppert mit den Klammern der tropfenden Felle.
Der Hang unter mir ist längst schon zu einer traumhaft schillernden Fläche geworden. Eine fingerdicke Firnschicht über der noch etwas festeren Unterlage. Erste Schwünge — schwereloses Schweben. Der Hang sollte niemals enden, wünsche ich, und von irgendwoher erfaßt mich plötzlich ein Gefühl, das nur der kennt, der den Wind kennt, mit dem es kommt: den Frühlingswind.