Die Geschichte vom kleinen Dorf in der Millionenstadt

Der Panier in Marseille
Westeuropas ältester Stadtteil, der Panier in Marseille, macht sich schick. Immer mehr Altbauten bekommen einen frischen Anstrich und leuchtend blaue oder knallrote Fensterläden. In die Ladenlokale ziehen teure Geschäfte wie der Laden für handgeschöpftes Papier. Jedes Notizbuch ist hier ein kleines Kunstwerk. Das billigste kostet 20 Euro. 

Nebenan, in der ehemaligen Metzgerei, arbeiten jetzt "seltene Vögel". L'Oiseau Rare ("Der seltene Vogel") haben Bruno, der Goldschmied und Elisa, die Glaskünstlerin, ihr Atelier genannt. "Klar haben die Leute erst komisch geguckt", erinnert sich Bruno. Viele haben sich gewundert, dass es da, wo sie immer ihre Wurst gekauft haben, jetzt ausgefallenen Schmuck und bunte Glasdekorationen gibt. 

Inzwischen fühlen sich die beiden akzeptiert. Die Tür zu ihrem kleinen Laden steht meistens offen. Wenn sie feiern, kommen die Leute einfach herein und trinken ein Glas Wein mit. Auch Elisa ist gerne hier im Viertel, auch wenn die Leute viel übereinander reden." Valérie, die ein paar Straßen weiter einen Töpferladen aufgemacht hat, liebt den Panier. "Die Steine", sagt sie, "sind voller Energie". Immerhin liegen manche schon mehr als 2000 Jahre hier. Auf den engen Straßen fahren kaum Autos, es gibt keine Hochhäuser. "Menschlich, überschaubar" nennt Valérie  den Stadtteil, "wie eine kleine Insel."

Urgroßvaters Schokolade

Nur noch drei Stunden brauchen die Pariser mit dem neuen Schnellzug TGV zum nahen Bahnhof Saint Charles. So drängt es immer mehr Hauptstädter in die Sonne, dorthin wo das Leben ihrer Vorstellung vom Süden am nächsten kommt: In den Panier mit seinen alten, verwitterten Häusern, wo es Läden gibt wie den von Madame Laurier.  In der vierten Generation stellt die Familie 180 verschiedene Sorten Schokolade her. "Alles handgemacht, nach den Rezepten vom Urgroßvater", schwört Madame, die bis heute keine Sahne und keine Butter verwendet. Als mein Urgroßvater die Rezepte schrieb, gab es keine Kühlschränke. Da wäre ihm Schokolade mit Butter oder Sahne schlecht geworden. Drum schmeckt Madame Lauriers Schokolade auch heute noch ein wenig trocken und leicht bitter, aber dafür nach Rosmarin, Rose, Lavendel oder Ingwer und Zwiebel.

Es ist diese  Beschaulichkeit, die die Großstädter aus dem Norden unter der Sonne des Midi lieben. "Sie richten sich in den alten Wohnungen ihre Zweitwohnsitze ein und verdrängen uns. Wir sind hier geboren, das lassen wir uns nicht gefallen", schimpft Zéphora über die rasant steigenden Mieten. Die kleine, kugelrunde Frau mit dem Lockenkopf ist im Panier geboren und aufgewachsen.

"Wir sind draußen, kommt vorbei" hat sie an die Tafel am Vereinslokal in der Rue de l'Eveché geschrieben. Auf einer Brache sitzen die Nachbarn in der Sonne, junge und  alte. Sie trinken Wein, essen die frisch gegrillten Schnitzel, unterhalten sich. Die Kinder spielen zwischen den Resten der Häuser, die schon abgerissen wurden. 

"Praktizierte Solidarität" nennt Zéphora den Alltag. Man halte zusammen, kümmere sich auch um die, die nicht mehr mithalten können, Alte, Kranke. "Und wenn Jugendliche Mist bauen, sind sie trotzdem unsere Kinder". 

Das Panier geht den Weg vieler ehemaliger Kleine-Leute-Viertel in europäischen Großstädten, sei es München-Schwabing, der Prenzlauer Berg in Berlin oder der Montmarte in Paris. Jahre lang interessiert sich niemand für sie. Die Häuser verkommen, weil die Bewohner kein Geld haben. Die niedrigen Mieten ziehen Studenten und Künstler an, die verrückte Läden und Ateliers aufmachen. Dann kommen die Designer, die Boutiquen und Leute, die sich ein schickes Nest in der Innenstadt einrichten. 

Wie das im Panier aussehen könnte, zeigt ein riesiges Plakat das die Stadt auf einer großen Freifläche aufgestellt hat. "Wohnumfeldverbesserung im Panier" steht darauf und darunter wandelt eine brave Kleinfamilie über eine große sterile Fläche. An deren Rand sind Betonkübel mit Stechpalmen abgebildet.
Die Geschichte vom kleinen Dorf in der Millionenstadt
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Platz für das seltsame Plakat hat 1943 die Deutsche Wehrmacht geschaffen. Um "Ordnung" zu schaffen, sprengten die Soldaten ein 14 Hektar großes Loch ins Viertel. Die Marseiller Polizei bekam Drogenhandel, Zuhälterei und Kleinkriminalität nicht in den Griff. 

"Streunende Hund und das Geschrei der Möwen"

Damit war ein großer Teil der Welt verschwunden, durch die sich vor rund 70 Jahren der deutsche Schriftsteller Walter Benjamin mit einer Mischung aus Abscheu und Faszination treiben ließ. Zunächst auf der Suche nach Haschisch und Inspiration, später auf der Flucht vor den Nazis war er am Hafen von Marseille gestrandet, wo er wie viele andere deutsche Intellektuelle lange vergeblich auf die rettende Ausreisemöglichkeit nach Spanien wartete. Er wohnte mit seinen Leidensgenossen in heruntergekommenen Wohnungen. Mittellos durchstreifte er das Stadtviertel der Halsabschneider, Hehler und Zuhälter: Streunende Hunde, offene Mülltonnen, das Geschrei der Möwen und der Gestank nach Urin vermischten sich mit dem salzigen Duft des nahen Meeres.   

Vor 2.600 Jahren siedelten die ersten Menschen an einer Quelle im heutigen Panier. Generationen  von Flüchtlingen, Glücksrittern und Verzweifelten sind seitdem hier an Land gegangen, Phönizier, Römer, Italiener, Spanier, Juden, Araber, Algierienfranzosen und zuletzt tausende von Nordafrikaner.


Die Augen der Heilige Lucia

Am Rand hat das moderne, das Weltstadt-Marseille, dem Panier schon seinen ersten Stempel aufgedrückt - behutsam noch, als wollten die Planer den  Alteingesessenen beweisen, dass sie nichts zu befürchten haben. Die Alte Charité, im 17. Jahrhundert als Armenhaus und Hospital errichtet, hat man zum Museum und Kulturzentrum umgebaut, nachts dezent in Rosa-  und Blautönen des Sonnenuntergangs erleuchtet.

Auf der anderen Seite, im Alten Hafen bieten die Fischer seit 2000 Jahren jeden Morgen ihren Fang frisch vom Boot an: Flundern, Seewolf, Muscheln und sogar Seepferdchen. Manche der Fische zappeln noch. Sie starren die Passanten mit großen Augen an. Es riecht nach Meer, nach Sonne und nach reichlich Zeit. 

Eine Fischerin verkauft die  spiegelglatten, bonbongroßen orange-weiß marmorierten Steine, die im Meer Muscheln als Verschluss dient: Die Augen der Heiligen Lucia.  "Wer sich eines davon in den Geldbeutel legt, hat immer genug zum Leben", verspricht die alte Frau. "Wir Fischer glauben seit Jahrhunderten dran", antwortet sie lachend auf die Frage, ob man sich darauf verlassen könne. 

Zéphore könnte der Kampf um ihr Viertel egal sein. Sie ist eine der wenigen Hausbesitzer. Niemand kann sie hinaussanieren. Aber, so sagt sie wütend, "es ist mein Viertel und die Leute hier, egal ob Franzosen oder Einwanderer, Moslems, Juden, Christen oder sonst etwas sind meine Nachbarn, meine Freunde, meine Familie."




Die Literaturkritikerin Sabine Günther bietet unter dem Titel "Der andere Blick" auf deutsch und französisch literarische Stadtrundgänge in Marseille an. Für eine 2-stündige Promenade durch die Marseiller Innenstadt kann man zwischen 5 Themen wählen: Marseille zur Zeit der französischen Romantik, die Stadt der Exilanten während des 2.Weltkriegs, auf den Spuren des Philosophen Walter Benjamin, auf den Spuren von Blaise Cendrars und Antonin Artaud und Marseille - Krimistadt.

Direktreservierung bei Sabine Günther:

Chemin de la Porte rouge
F - 13530 Trets
Tel/Fax: 0033-(0) 4 42 29 34 05
gunthersabine@infonie.fr

Das aktuelle Programm befindet sich auf der Website des Vereins Passage & Co.: http://www.passage-co.com



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